Schreck am Morgen

New York, April 1946

Die Klinge schnitt durch das weiche Fleisch, zwischen seinen Fingern quoll es rot hervor. Connor MacLeod nahm die beiden Hälften der Blutorange, entfernte einige Kerne und presste den Saft aus. Für sich selbst hatte er einen schwarzen Tee gemacht, English Breakfast Tea mit einem Schuss Milch. Er stellte Rachels Orangensaft auf ihren Platz und sah auf die große Wanduhr. Schon fast sieben Uhr. Es war Montag, Rachel musste bald zur Schule. Wo blieb sie?

Connor griff sich die Zeitung und ging lesend durch den Loft hinüber zu Rachels Zimmer. Die Titelgeschichte handelte von den Fortschritten der Nürnberger Prozesse, die seit mehreren Monaten abgehalten wurden. Unwillkürlich musste Connor wieder an die Bilder zerstörter Städte denken. Es war gerade erst ein halbes Jahr her, dass er eine kurze Reise nach Frankreich und Deutschland unternommen hatte, um zu sehen was der Wahnsinn der letzten Kriegsmonate übrig gelassen hatte. Und er war froh, dass er dank Rachel einen guten Grund gehabt hatte, diesem Krieg den Rücken zu kehren.

"Rachel?" Connor klopfte und öffnete die Tür. Immer noch lesend betrat er das ehemalige Speisezimmer, dass er vor zwei Jahren für seine Adoptivtochter hergerichtet hatte.

"Komm, steh auf, du kommt sonst zu spät..." Connor brach ab und starrte auf das Bild, dass sich ihm bot. Ein Stuhl lag umgedreht auf dem Fußboden inmitten verschiedener Spielsachen. Rachels Bett war leer, ihr Bettzeug chaotisch im Zimmer verstreut und das Fenster stand weit offen. Vor allem aber fehlte jede Spur der Zwölfjährigen, dafür lag ein Zettel auf dem Boden.

Connors Herz schlug schneller als er ihn aufhob und die aus Zeitungsbuchstaben zusammengesetzte Schrift betrachtete. "WIr HaBEN iHRe TOChTEr. FOrdeRUNgen FolGEn" stand darauf in zusammengestückelten Buchstaben.

"Oh nein", murmelte Connor und eilte zum Fenster. Er sah zu der Feuerleiter hinüber, die an der Rückseite des Hauses hinablief. Wie hatten die Täter hier eindringen können? Es lagen fast zwei Meter zwischen der Leiter und dem Fenster, und es gab keinen nennenswerten Halt an der Wand dazwischen. Das Fenster war intakt, aber Rachel hatte es möglicherweise geöffnet gehabt, der Frühling begann allmählich.

Connors Blick schweifte wieder über das Chaos im Zimmer, dass er nur als Spuren eines Kampfes werten konnte. Wieso hatte er nichts gemerkt? Wie konnte so etwas in seinem Haus passieren, ohne dass er es mitbekam? Normalerweise hatte er einen leichten Schlaf, was ihm schon mehr als einmal das Leben gerettet hatte.

Connor war fassungslos. Kaum hatte er sich an sein neues Leben als Vater gewöhnt, ging Herausforderungen anderer Unsterblicher aus dem Weg und verhielt sich allgemein unauffällig, wurde seine Tochter entführt! Während Connor sich zusammenriss und im Geiste die Optionen durchging, hörte er plötzlich hinter sich ein Kichern, und eine vergnügte Stimme krähte: "April, April!"

Connor fuhr herum und sah Rachel, die angezogen in der Tür ihres Kleiderschrankes stand. Zu ihren Füßen rutschten einige zerfledderte Zeitungen aus dem Schrank. Für einige Sekunden starrten sie sich nur an, und Connor brachte kein Wort hervor. Rachels Grinsen wurde kleiner, als ihrem Adoptivvater schließlich ein lautes "Rachel!" entfuhr. Er ging zu ihr, drückte sie kurz an sich und hielt sie dann auf Armlänge von sich.

"Was hast du dir dabei gedacht?" fragte er sie und zwang sich, nicht zu böse zu klingen.

Das Grinsen war verschwunden. "Ich... Doro hat mir davon erzählt", begann Rachel zu erklären. "Heute ist doch der erste April, und sie hat gesagt, das ist normal, dass man da seinen Eltern einen Streich spielt. Es tut mir leid."

Ein Aprilscherz! Das war das letzte, was er von Rachel erwartet hätte, und sein Ärger verflog als ihm klar wurde, was gerade passiert war, welch wichtigen Schritt das für Rachel darstellte. Connor drückte sie wieder an sich. "Schon gut", murmelte er und klang diesmal tatsächlich besänftigt. "Ich bin dir nicht böse, ok. Du hast mich nur ziemlich erschreckt."

Dann warf er wieder einen Blick auf das Zimmer. "Wann bist du aufgestanden?" fragte er.

"Halb sechs", gab Rachel stolz zu. "Aber den Brief habe ich schon gestern gemacht."

"Na gut, Kleines." Connor stand auf. "Jetzt aber los, iss noch etwas und dann ab zur Schule."

Und während Rachel vor ihm zur Küche ging, sah Connor sie nachdenklich an. Dies war das erste Mal gewesen, dass Rachel ihm einen Streich gespielt hatte, wie es Kinder eben taten. Doch Rachel war nicht wie andere Kinder. Sie war ein stilles Mädchen, hatte nicht viele Freunde in der Schule und tat immer was man ihr sagte. Ihre Kindheit hatte nicht lange gedauert, sie war gerade sechs Jahre alt gewesen als die Wehrmacht die Grenze zu den Niederlanden überschritt. Connor gab sich alle erdenkliche Mühe, sie von ihren schrecklichen Erinnerungen abzulenken, doch er konnte ihr nicht die Jahre wiedergeben, die sie an den Krieg verloren hatte. Oder ihre Familie.

Und nun ein Aprilscherz! Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr freute er sich darüber. Vielleicht würde aus ihr doch noch ein ganz normales Mädchen werden.

Connor fuhr Rachel durch ihre schulterlangen blonden Haare. "Ich sollte wirklich besser aufpassen, welche Filme wir uns im Kino anschauen", meinte er, und sie grinsten beide. Sein Leben hatte sich in den letzten zwei Jahren sehr verändert. In Zukunft würde er sich wohl auch an Aprilscherze gewöhnen müssen.



(c) by Johannes Freudendahl     https://ammaletu.de

Anmerkungen:

Die Story spielt im Highlander-Universum.
Sie wurde im "Highlander Magazin" Nr. 13 (Mai 2005) veröffentlicht.

Was mich zu dieser kurzen Story inspiriert hat, ist sicher klar, wenn man sich den Tag anschaut, an dem ich sie geschrieben habe. Mal abgesehen davon, dass ich Rachel Ellenstein als Charakter immer noch faszinierend finde, passte die Geschichte auch mal wieder gut auf ein paar freie Seiten des Highlander Magazins.

Bekannte Unsterbliche in dieser Geschichte:
Connor MacLeod

Geschrieben: 02. Apr 2005  |  Wörter: 863